Der Krebs war in Remission, aber die Müdigkeit ließ sie nie genesen. Bei Beatrice M., einst Kunstlehrerin an einer High School und begeisterte Wanderin, wurde im Alter von 54 Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Sie unterzog sich einer Operation, Chemotherapie, Bestrahlung und jahrelanger Hormontherapie, um die Krankheit in Schach zu halten. Aber fünf Jahre später wacht sie immer noch ausgelaugt auf und kommt zu erschöpft nach Hause, um funktionieren zu können. „Ich fühle mich die ganze Zeit schlapp und erschöpft“, sagt sie. Trotz normaler Blutwerte und ohne Anzeichen einer Depression liegt ihre tägliche Müdigkeit bei 6 bis 8 auf einer Skala von 0 bis 10. Bei Beatrice und zahllosen anderen Krebsüberlebenden mag der Krebs verschwunden sein, aber die Erschöpfung lässt nie nach.
Die lebensverändernden Auswirkungen von krebsbedingter Müdigkeit (CRF)
Krebsbedingte Müdigkeit (CRF) ist nicht einfach nur Müdigkeit. Laut dem US-amerikanischen National Comprehensive Cancer Network (NCCN) wird sie als „ein belastendes, anhaltendes und subjektives Gefühl körperlicher, emotionaler und/oder kognitiver Erschöpfung im Zusammenhang mit Krebs oder der Krebsbehandlung“ definiert. Dieses Ausmaß an Müdigkeit tritt auch ohne nennenswerte geistige oder körperliche Anstrengung auf und bleibt oft trotz ausreichender Ruhepausen bestehen. Trotz ihrer Häufigkeit wird CRF immer noch nicht ausreichend gemeldet, diagnostiziert und behandelt, sodass viele Patienten und Überlebende still und leise mit ihren Beschwerden kämpfen.
Seit Ende der 1980er Jahre wurden Fälle von CRF im klinischen Umfeld dokumentiert, typischerweise nach Chemo- oder Strahlentherapie. Eine Multi-Zenter-Studie an 38 US-amerikanischen Einrichtungen ergab, dass etwa 45 % der Krebspatienten unter aktiver Behandlung über mäßige bis starke Müdigkeit berichteten. Selbst unter den Überlebenden, die die Behandlung abgeschlossen haben und krebsfrei sind, litten etwa 30 % weiterhin unter erheblicher Müdigkeit. Ähnlich verhielt es sich in einer Längsschnitt Studie mit Brustkrebsüberlebenden: 35 % gaben an, sich auch fünf bis zehn Jahre später noch müde zu fühlen, insbesondere unter jenen, die sowohl Chemo- als auch Strahlentherapie erhalten hatten.
Noch besorgniserregender ist, dass Krebspatienten die Fatigue oft als das schwerwiegendste und behinderndste Symptom während und nach der Behandlung einstufen, verglichen mit anderen Symptomen wie Schmerzen, Übelkeit oder Depressionen. Ganze 91 % der Krebspatienten gaben an, dass Fatigue sie daran hindere, ein normales Leben zu führen. Alltägliche Aufgaben wie Essen zubereiten, Hausarbeit oder soziale Kontakte wurden zu viel für sie (Abbildung 1). Auch die Produktivität wird durch Fatigue beeinträchtigt: Über 75 % der Patienten mussten ihre Arbeitsbedingungen anpassen oder ihre Arbeit ganz aufgeben. Fast jeder Fünfte benötigte Hilfe bei einfachen Hausarbeiten, was zusätzliche Kosten für die Einstellung von Hilfskräften verursacht. Diese Belastungen können auch auf Familien und Pflegekräfte übergreifen, die möglicherweise ihre eigene Arbeitszeit reduzieren müssen, um sich um ihre von Fatigue betroffenen Angehörigen zu kümmern.
Abbildung 1. Auswirkungen krebsbedingter Müdigkeit auf normale Aktivitäten bei Krebspatienten, die mit Chemotherapie behandelt wurden. Aktivitäten wie Gehen, Sport treiben, Putzen oder soziale Kontakte pflegen fiel vielen Patienten etwas oder deutlich schwerer. Die dunkleren Balken stehen für deutlich schwierigere Aufgaben, die helleren für etwas schwierigere. Quelle: Crawford und Gabrilove (2000) in Hofman et al. (2007), The Oncologist.
Neben der körperlichen Gesundheit beeinträchtigt CRF auch das emotionale und kognitive Wohlbefinden. In einer großen Umfrage berichteten 90 % der Patienten von einem Verlust der emotionalen Kontrolle und über 70 % fühlten sich isoliert oder deprimiert. Studien haben CRF mit einem höheren Risiko für Depressionen, Angstzustände und Stimmungsschwankungen in Verbindung gebracht. Eine Analyse aus dem Jahr 2025, die auf der Jahrestagung der «American Association for Cancer Research (AACR)» vorgestellt wurde, ergab, dass Überlebende von CRF mit einer um 86 % höheren Wahrscheinlichkeit Freizeitaktivitäten wie Spazierengehen oder Gartenarbeit einschränken. Depressionen verschlimmerten diesen Effekt noch und führten zu einer eingeschränkten Teilnahme an verschiedenen Aktivitäten. Bemerkenswerterweise waren diese Auswirkungen bei Frauen stärker ausgeprägt, die häufiger sowohl an CRF als auch an Depressionen litten.
Diese Ergebnisse unterstreichen, dass CRF eine ernsthafte und anhaltende Erkrankung ist, die Patienten und Überlebende auch noch lange nach der Krebsbehandlung beeinträchtigt. Trotz ihrer Häufigkeit und Auswirkung sind die zugrundeliegenden Mechanismen von CRF noch immer unzureichend verstanden. Warum hält diese Erschöpfung an, selbst wenn der Krebs verschwunden ist und die Blutwerte normal sind? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir untersuchen, was CRF von innen heraus verursacht.
Die zugrunde liegende Biologie der krebsbedingten Müdigkeit (CRF)
CRF ist nicht einfach eine Folge von Schlafmangel oder mangelnder Fitness. Obwohl Erkrankungen, Medikamente oder Stimmungsschwankungen zu Müdigkeit beitragen können, bleiben viele Patienten mit CRF ansonsten gesund. Dies deutet darauf hin, dass tiefere physiologische Mechanismen eine Rolle spielen (Abbildung 2).
Zu den am besten untersuchten und am häufigsten unterstützten biologischen Erklärungen zählen Entzündungen. Sowohl Tumore als auch Chemotherapie oder Strahlentherapie können die Freisetzung entzündungsfördernder Zytokine wie Interleukin-6 (IL-6) und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) auslösen. Diese Zytokine können das Gehirn über den Vagusnerv oder undichte Bereiche der Blut-Hirn-Schranke erreichen. Im Gehirn angekommen, stören sie die Synthese und das Gleichgewicht von Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin und Glutamat. Diese Störung trägt zu Symptomen wie Müdigkeit, geistiger Verwirrung und geringer Motivation bei, die zusammen als „Krankheitsverhalten“ bezeichnet werden. Insbesondere entzündungsbedingte Müdigkeit kann lange anhalten. Selbst Jahre nach Ende der Behandlung weisen Überlebende von CRF noch erhöhte Entzündungsmarker im Vergleich zu nicht erschöpften Altersgenossen auf.
Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass CRF auch mit tieferen Veränderungen des Immunsystems zusammenhängen könnte. Studien haben gezeigt, dass einige erschöpfte Krebsüberlebende eine veränderte Genexpression in Immunzellen aufweisen, insbesondere in Genen, die an Entzündungen beteiligt sind. In einigen Fällen wurde CRF mit der Reaktivierung ruhender Viren wie dem Zytomegalie Virus (CMV) in Verbindung gebracht. Eine Studie ergab, dass fast alle Patienten unter Chemotherapie eine CMV-Reaktivierung erlebten, die mit grippeähnlichen Symptomen und einem Anstieg der Entzündungssignale einherging. Daher können die veränderte Aktivität der Immungene zusammen mit der Reaktivierung latenter Viren einen entzündungsfördernden Zustand aufrechterhalten, der anhaltende Müdigkeit während und nach der Krebsbehandlung fördert.
Andere biologische Systeme können ebenfalls von CRF betroffen sein. Beispielsweise wurde bei Patienten mit CRF eine Dysregulation der Hypothalamus – Hypophysen -Nebennierenrinden – Achse (HPA-Achse) beobachtet. Die HPA-Achse ist das zentrale Stressreaktionssystem des Körpers. Sie verbindet Gehirn und Nebennieren, steuert unsere Stressreaktion und reguliert Faktoren wie Energie, Stimmung und Entzündungen. Einige Studien berichten von abnormen Cortisol-Rhythmen und einer verminderten Glukokortikoid-Rezeptor-Sensitivität bei Patienten mit CRF, was die Fähigkeit des Körpers, Entzündungen zu bekämpfen, beeinträchtigen kann. Der Glukokortikoid-Rezeptor bindet Cortisol, um die HPA-Achse zu regulieren. Darüber hinaus kann CRF mit einem Ungleichgewicht des autonomen Nervensystems einhergehen. Patienten zeigen eine erhöhte sympathische Reaktion („Kampf oder Flucht“) und eine verminderte parasympathische Aktivität („Ruhe und Verdauung“), was auf anhaltenden physiologischen Stress hindeutet. Ähnlich wie die HPA-Achse trägt das autonome Nervensystem zur Regulierung der Immunaktivität bei, was ebenfalls die CRF beeinflussen kann.
Zusammengenommen deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass CRF nicht nur eine mentale Störung ist. Es ist mit tatsächlichen biologischen Veränderungen verbunden, wie beispielsweise leichten Entzündungen und Ungleichgewichten in verschiedenen Körpersystemen (Abbildung 2). Obwohl diese Auswirkungen nicht bei jedem gleich auftreten, erklären sie, warum sich manche Patienten auch dann noch erschöpft fühlen, wenn der Krebs in Remission ist und die üblichen Laborparameter normal erscheinen.
Abbildung 2. Mechanismen der krebsbedingten Müdigkeit (CRF). Bei Krebserkrankungen oder Gewebeschäden durch Chemo- oder Strahlentherapie setzen Immunzellen entzündungsfördernde Signale, sogenannte Zytokine, frei. Diese Signale können zum Gehirn gelangen und Müdigkeit, geistige Verwirrung und depressive Verstimmung auslösen. Dieser Kreislauf kann durch Stress, hormonelle Ungleichgewichte, Veränderungen des Immunsystems oder sogar genetische Faktoren, die Entzündungen beeinflussen, verstärkt werden. Zusammen können diese Faktoren die Müdigkeit noch lange nach erfolgreicher Krebsbehandlung aufrechterhalten. Quelle: Bower (2015), Nature Reviews in Clinical Oncology.
Krebsbedingte Müdigkeit (CRF): Was können wir dagegen tun?
Leider gibt es keine universelle Lösung für CRF. Da die Ursachen komplex sind und von Person zu Person variieren, haben Forscher eine breite Palette von Behandlungsansätzen untersucht, darunter Bewegung, psychologische Unterstützung, Medikamente und ergänzende Therapien – mit unterschiedlichem Erfolg.
Körperliche Aktivität ist nach wie vor eine der wirksamsten und am besten untersuchten Interventionen. Eine Metaanalyse von 56 Studien ergab, dass regelmäßige Bewegung Müdigkeit sowohl bei Patienten in Behandlung als auch bei Überlebenden reduzieren kann. Selbst einfache, maßgeschneiderte Trainingspläne können helfen, sofern sie an das Energieniveau und die Fähigkeiten des Patienten angepasst sind. Der Fokus der meisten Studien lag jedoch nicht speziell auf Menschen, die bereits unter mittelschwerer bis schwerer Müdigkeit litten. Daher bedarf es weiterer Forschung, um sicherzustellen, dass körperliche Betätigung für diejenigen, die sich am stärksten erschöpft fühlen, durchführbar und sicher ist.
Psychosoziale Interventionen wie kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Aufklärungs-Programme und Selbsthilfegruppen können ebenfalls Linderung verschaffen, insbesondere wenn die CRF mit ungünstigen Überzeugungen oder emotionalem Stress verbunden ist. KVT lehrt Patienten, negative Gedanken zu hinterfragen, Energie zu sparen und Schlaf- sowie Aktivitätsmuster zu regulieren, was zu dauerhaften Verbesserungen bei Müdigkeit geführt hat. Darüber hinaus haben frühere Studien darauf hingedeutet, dass Körper-Geist-Therapien wie Meditation, Yoga und Akupunktur bei der Behandlung von CRF bis zu einem gewissen Grad hilfreich sein können. Diese Therapien können das Nervensystem beruhigen und sogar die zugrunde liegende Entzündung reduzieren.
Darüber hinaus haben sich mehrere Medikamente als vielversprechend bei der Behandlung von CRF erwiesen. Beispielsweise können hämatopoetische Wachstumsfaktoren wie Erythropoietin und Darbepoetin helfen, wenn die Müdigkeit durch eine chemotherapiebedingte Anämie verursacht wird. Da die meisten Patienten oder Überlebenden mit CRF jedoch nicht anämisch sind, ist es unwahrscheinlich, dass diese Wirkstoffe der Mehrheit helfen. Psychostimulanzien (z. B. Methylphenidat) oder entzündungshemmende Mittel (z.B. Dexamethason) haben gemischte Ergebnisse gezeigt. Sie können für einige Patienten hilfreich sein, insbesondere für diejenigen mit schwerer Müdigkeit oder anhaltender Entzündung, werden aber nicht für die routinemäßige Anwendung bei allen Patienten mit CRF empfohlen.
Komplementärtherapien mit Phytotherapie (therapeutische Pflanzenstoffe) haben ebenfalls vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung von CRF gezeigt. Unter diesen ist Ginseng am besten erforscht, insbesondere der Asiatische Ginseng (Panax ginseng) und der Amerikanische Ginseng (Panax quinquefolius). Eine aktuelle Metaanalyse von 12 klinischen Studien hat ergeben, dass sowohl orale Ginseng-Einnahme als auch Ginseng-Extrakt Injektionen die körperlichen Symptome von CRF wirksam lindern können, wobei Injektionen sich als wirksamer bei der Linderung von kognitiver Erschöpfung erwiesen. Das US-amerikanische National Cancer Institute hat Ginseng-Nahrungsergänzungsmittel sogar als eine der Behandlungsstrategien für CRF aufgeführt. Einige Forschungsarbeiten haben auch den potenziellen Einsatz von Quercetin, Stigmasterol und Luteolin bei der Behandlung von CRF unterstützt, obwohl die Beweislage im Vergleich zu Ginseng noch begrenzt ist. Schließlich rührt die Beliebtheit von Ginseng teilweise von seiner traditionellen Rolle als Adaptogen her, das die Widerstandskraft des Körpers gegen Stress und verschiedene Erkrankungen verbessert (Abbildung 3).
Letztendlich gibt es keinen einheitlichen Ansatz, der für alle funktioniert. CRF kann durch viele Faktoren verursacht werden, wie chronische Entzündungen, Veränderungen des Immunsystems, Stresshormone, Probleme mit dem autonomen Nervensystem oder auch die emotionale Stressbewältigung. Die beste Behandlung ist oft die, die auf das individuelle biologische und psychologische Profil des Patienten zugeschnitten ist. So wie die Krebsbehandlung zunehmend individueller wird, sollte auch das Fatigue-Management immer individueller werden.
Abbildung 3. Ein Überblick über die gesundheitsfördernden Eigenschaften von Ginseng. Ginseng wird mit verbesserten kognitiven Funktionen, reduzierter Angst, erhöhter Insulinsensitivität, antimikrobieller Aktivität und Schutz vor kardiovaskulären, gastrointestinalen und neurologischen Schäden in Verbindung gebracht. Ginseng kann außerdem die Toxizität bestimmter Chemotherapeutika reduzieren, die Apoptose von Krebszellen fördern und zur Linderung von krebsbedingter Müdigkeit (CRF) beitragen, was sein Potenzial als ergänzende Therapie in der Onkologie unterstreicht. Quelle: Szczuka et al. (2019), Nutrients.
Zusammenfassung
CRF ist eine der häufigsten, aber am wenigsten behandelten Belastungen onkologischer Patienten. Trotz ihrer erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität – CRF beeinträchtigt den Alltag, das emotionale Wohlbefinden und sogar die Therapietreue – wird sie immer noch zu wenig erkannt und behandelt. Da immer mehr Menschen Krebs überleben, muss die Behandlung über die bloße Heilung der Krankheit hinausgehen. Die Heilung von Krebspatienten muss auch die Wiedererlangung von Energie, Vitalität und Normalität umfassen.